berliner kindheit um 1990

Das Bewusstsein des Kindes teilt sich nicht in Puppe und Engel, es kennt keine Zeit. Wer hat das Kind beraubt, wer hat es ermordet? Als das Kind Kind war, wusste es, dass es nicht Kind war, hatte starke Arme und Schultern, wünschte sich von allem weniger, war getrennt von allen Seelen. Als das Kind nicht Kind war, hatte es von allem eine Meinung, saß brav und still auf dem Stuhl, hatte einen Flechtzopf, ein schwarzes Kleid und hasste Kameras. Als das Kind nicht Kind war, aß es alles, erwachte in fremden Betten, erschienen ihm viele Menschen hässlich, wusste es nichts vom Paradies und schauderte davor. Als das Kind nicht Kind war, war ihm alles Arbeit, war nichts genug, fiel ihm nichts in den Schoß, hatte es Sehnsucht nach dem Versteck, griff nicht nach Belohnungen, scheute keinen Riesen und tanzte ihnen auf der Nase herum. Und so tanzt sie immer noch – in den Ruin.


»What if I'm opening up, What if the pouring wonʼt stop, Always too deep in my thoughts, Trying to connect the dots, I donʼt wanna be too much, Bothering with my baggage, But thereʼs really no way to judge, The talking heals the headache, Sometimes the worldʼs a little loud, And silence makes it tougher, The voices take up all the space, And thereʼs no room for comfort, Sometimes if we hug real tight, We still donʼt get to touch, My mind is playing tricks on me, Itʼs all a bit too much, What if I'm opening up, What if the pouring wonʼt stop, Always too deep in my thoughts, Trying to connect the dots«

Wie ist es möglich zu leben, wenn doch die Elemente dieses Lebens völlig unfassbar sind? Wenn wir immerfort im Lieben unzulänglich, im Entschließen unsicher und dem Tode gegenüber unfähig sind?

Als Flâneuse wandelt sie durch Berlin, wendet sich an vertraute Orte, die jetzt wie leergefegt sind – da ist nichts mehr, was sie noch suchen könnte, nichts mehr, was sie verfolgen könnte. Unabhängig geworden von ihren Bewohnern, sie treibt Nichts und Niemand vor sich her, vertreibt Nichts, tatsächlich einen Moment offen wie nie - schön und schrecklich zugleich. Vielleicht ist auch alles unsichtbar geworden, hypothetisch. Die Stadt, die Flâneuse, sie erobern sich zurück, oh es ist kein Flanieren, es ist eine Durchreise in die unendliche Weite, in der es nur noch Straßen und Brücken gibt. Die Fenster und Läden und Fassaden sind geschlossen, es gibt keine Hinterhöfe, keine Aufenthaltsorte, als würde nichts dahinter stecken. Und zum ersten Mal sind die Straßen der Raum, auf denen man sonst nicht verweilen darf. Sie geht eine Weile am Rand, schaut nicht auf und berührt jedes Geländer mit ihren Fingerspitzen. Die Hände nicht mehr frei wird es am Rand zu eng und sie blockiert den Verkehr – eigentlich unzugänglich, es verletzt die Verkehrsregeln, doch es scheint nichts mehr zu geben, was sie stört, sanft enttäuscht von dieser nicht sehr verlässlichen Welt. Was sie bei sich trägt, ist ihr Mobiliar, sie trägt es durch die ganze Stadt, stellt es mitten auf dem Damm – ihren Tisch und ihren Stuhl. Eine Brücke, sie setzt sich, bleibt und schreibt einen Moment, immer wieder, immer mitten auf der Straße. Die Leute machen ihren Bogen, Belästigungen werden nicht beginnen, ich werde nicht gebraucht. An einer Kreuzung schließlich eine spiegelglatte Fassade, die in die Höhen, in den Himmel ragt und die Längen des Gehwegs sind nicht mit Steinen versiegelt, sondern mit Sand verlesen, Straßen fließen nur so dahin. Ein Mädchen im Sand und sie setzten sich zu ihr. Nicht die Einzige, die an diesem Tag dort strandet. Granulöse Gedanken zwischen den Zehen und den Fingern und im Abschied Begriffen lässt sie eine Hand brandend nicht mehr los. Einer nimmt mich plötzlich ans Herz. Etwas oder jemand erhebt sich, bäumt sich auf, versperrt den Weg. Das wars, jetzt gibt es kein Zurück mehr, eine unsichtbare Flut bündelt sich, findet einen Weg zurück und schießt mit voller Wucht in den offenen Ozean. Was sie in dieser Nacht erfasste und abwärts sog, viel stärker und tiefer, als der Tag erlaubt, schleuderte alles Leben nach der Seite. Sie hatte Abflüsse immer gemieden, sie saugen die Seele aus und führen an dunkle Orte. Sie ist immer vorher aus der Badewanne gestiegen, sie wollte nie erleben, wie es passiert. Wenn sie badete, hielt sie sich immer fest am Wannenrand, aus Angst, die Wanne könnte sich auftun und sie würde in den tiefen und dunklen, chaotischen und gewalttätigen Ozean fallen. Draußen herrschen dunkle Winde und Stürme. Ein grollender Donner erschreckt ihr das Herz, doch ältere Schrecken stürzen in sie bei diesem berührenden Anstoß. Das Kind macht sich mit der Finsternis vertraut.

Und jetzt fällt sie. In einen Stuhl in einem Kreis in einem Raum an einem Ort neben einer Kirche. Dieses Mal ist es nicht die Zionskirche. Hi! Mein Name ist … und ich bin hier, weil … »Was? Ich mache erstmal das Fenster auf.«

Angst vermengt sich mit Hoffnung. Sie hatte es immer vermieden, das Fenster zu öffnen. Am Himmel über Berlin hängen tausende Ranken, an denen Affen akrobatisch umherschwingen. Einer von ihnen gleitet an ihr Fenster, die Hand an der Scheibe. Sie betrachtet ihn durch die Scheibe und trommelt dem Affen verspielt mit den Fingerspitzen zu. Flüchtige Berührungen auf dem Fenster, Vorsicht. In Unruhe, die mich übersteigt, nur einen Spalt breit öffnet sie das Fenster und wendet ihm den Rücken zu, als er sie packt und aus dem Fenster zieht, schneller als das Wasser, in einer Sekunde Frühling, Sommer und Herbst, das Fallen schon inbegriffen. Verzweifelt heftet sie sich ans Fensterbrett, um Hilfe schreiend, schlingend und windend baumeln ihre Beine in die Tiefe – nicht sehr akrobatisch, die seelischen Sch(m)erze(n) inbegriffen. Ihre Nachbarn treten vors Fenster und lachen – was es da zu lachen gibt über jemanden, der fast gestorben wäre. Das ist gar nicht witzig. Sie hat in den Himmel geblickt, durchs Fenster, aber nie nach unten. Sie sieht an sich runter – zwei Meter tief, höchstens. Seltsam, hatte sie nicht ganz oben gewohnt? Jetzt klettert sie aus dem Fenster in den Garten, in dem sie eine Schachtel findet mit einem Brief, an das verängstigte Mädchen in der Stralsunder Straße. Gefüllt ist sie mit lauter bunten Bonbons, glänzend und in den schönsten Farben verpackt, künstliche Früchte. Alle unwahr gefärbt, nichts ist es selbst. Verlockend, sichtbar, schön, schillernd, vielleicht tröstend, aber nicht darüber hinweg, wenn der Regen kommt und es war umsonst und das Zeug fließt davon.

Ich habe nie geblüht, ich habe mit der endlichen Frucht angefangen.

Unbrauchbar ist sie geworden. Wer hat einen Nutzen von ihr? Was leistet sie eigentlich noch, wo ist ihr Können, ihr Glück, ihr Heldentum nur hinverschwunden? »Ich leg mich in den Keller zu den ausgestorbenen Tieren, ich leg mich in den Kühlschrank, dort liegt noch etwas Eis, dann ruf ich deinen Namen es ist mein kleines Bisschen Wahrheit.« So kalt ist es nicht, er singt mir ein Volkslied, weil das alles ist was er hat. Kartoffelbrei in seinen Hosentaschen. Es ist alles, was ich brauche. Immer wieder schrecklich ist er verkleidet sich. Versuche, vergänglich, vergeblich, einsam und zugleich verschwunden. Der Schrei nach Liebe, kaum vorstellbar wie es möglich ist, den zu ertragen im versprechlichen Spiel. Der Schrei weckt nicht nur das Geliebte, sondern auch die Toten aus ihren Gräbern. Verwandlungslehre, wenn die Ikonen verschwinden. Aber wenn es auf dem Hin-Weg keiner hört? Der ausgestreckte Arm, gleichzeitig Einladung und Abwehr. Fast hätte ich meine Individualität vergessen, fast wäre ich eins mit meiner Umgebung geworden, mit dem Frühling, ich hätte fast meine Dürftigkeit vergessen. Abwehr und Warnung liegt im Bild des kleinen Fisches der ich bin, mehr Gräten als Fisch. Der Engel über Berlin wird nicht kommen, meine inneren Bilder beschützen mich vor dem unanschaulich-abstrakt gewordenen Dasein. Und so entsteht sie, die Stille, die Abrückung der Ereignisse ins Unsichtbare. Wir sehen den Tod zuerst, wir gestalten alles rückwärts, nichts offen, alles ist bereits Gestaltung, bereits Welt. Ich habe wohl meine Karten verkehrtherum gehalten als ich dachte, ich hätte auch nur einen einzigen Tag einen reinen Raum vor mir, als wäre ich für einen Tag unüberwacht, unendlich weiß. Manchmal verliere ich mich wie aus Versehen an diese Vorstellung, staunend in der Liebe, aber dann schiebt sich die Welt wieder davor und ich falle in einen tiefen Schlund, werde gerüttelt und erzittere. Vielleicht liegt es daran, dass ich keine Erinnerungen an meine Mutter habe, dass ich denke, ich könne tanzen und fliegen. Dann schließe ich mich wieder ein und es zerreißt mich fast, wenn ich aller Gefühle voll versuche, mich und mein Leben in Ordnung zu bringen, und diese Ordnung wieder zerfällt. Dann fühle ich, wie ich selbst zerfalle. Das Unsichtbare sichtbar machen wollte ich einmal, als ich in der Werbung arbeitete. Braucht sie das nicht, die Welt?

Ich wollte alles verwandeln und habe dabei die Welt vergessen. Und das Märchen, das mir einst meine Mutter zugedichtet hatte, auf dass es meines werde:

»Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, dass es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr hatte, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. Es war aber gut und fromm. Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld. Da begegnete ihm ein armer Mann, der sprach: "Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungrig." Es reichte ihm das ganze Stückchen Brot und sagte: "Gott segne dir's," und ging weiter. Da kam ein Kind, das jammerte und sprach: "Es friert mich so an meinem Kopfe, schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann." Da tat es seine Mütze ab und gab sie ihm. Und als es noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind und hatte kein Leibchen an und fror: da gab es ihm seins; und noch weiter, da bat eins um ein Röcklein, das gab es auch von sich hin. Endlich gelangte es in einen Wald, und es war schon dunkel geworden, da kam noch eins und bat um ein Hemdlein, und das fromme Mädchen dachte: "Es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du kannst wohl dein Hemd weggeben," und zog das Hemd ab und gab es auch noch hin. Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel, und waren lauter blanke Taler; und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an, und das war vom allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag.«

Kartoffelbrei mit Fischstäbchen ist wohl für viele etwas, dass sie an die Kindheit erinnert. Aber in den Kartoffelbrei muss ein Loch für die Sauce. Fisch in Tomatensauce, eklig. Ich mochte Kartoffelbrei mit Tomatensauce, und so ist es heute immer noch. Für ein Kind, das nicht Kind war, ist wohl das Ende des Leidens der Tod. Berlin ist meine Leid-Stadt. Sterntaler, steigendes Glück, das mich beinahe bestürzt. »Pupillen offen, Kiefer geschlossen.« Ein Kind, das niemals schlafen durfte, immer wach und dennoch abgestellt in isolierter Sphäre, und sie ist es immer noch. »Meine Augen sind aus Glas und ich sehe immer schärfer, aus meinem Mund stromt Gas und ich werde immer wärmer.« Plötzlich soll es andersherum sein. Das Außen zerstört mein Innen. »Ich bin der Stern, der auf deinem Boden schlief, ich bin der Stern, der gefallen vor dem Himmel liegt, ich bin der Stern, in dem du nachts die Sonne siehst, ich bin dein Stern, Berlin, Berlin. Ich bin der Stern, nach dem du so gesucht hast, ich bin der Stern, das Funkeln in den Ästen, ich bin verloren, im Rauch über der Landschaft, ich bin dein Stern, Berlin, Berlin.«

»Man hat uns nicht gefragt, als wir noch kein Gesicht, Ob wir leben wollten oder lieber nicht, Jetzt gehe ich allein, durch eine große Stadt, Und ich weiß nicht, ob sie mich lieb hat, Ich schaue in die Stuben durch Tür und Fensterglas, Und ich warte und ich warte auf etwas, Wenn ich mir was wünschen dürfte, Käm ich in Verlegenheit, Was ich mir denn wünschen sollte, Eine schlimme oder gute Zeit, Wenn ich mir was wünschen dürfte, Möchte ich etwas glücklich sein, Denn wenn ich gar zu glücklich wär', Hätt' ich Heimweh nach dem Traurigsein«

* Mit Geschichten und Lyrics von Amilli, Rilke, Sophie Hunger, den Gebrüdern Grimm, Haftbefehl und Marlene Dietrich

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die grausamkeit des lichts

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